Würde der Titel lauten: „Von 0 auf 100“, dann wäre jedem klar, daß es sich um die Zeit handelt, die ein Fahrzeug braucht, um von 0 auf 100 km/h zu beschleunigen. Aber so?
Von den ca. 42000 km, die wir seit Übernahme von Patsha in Europa gefahren sind, schätzen wir, daß ich, Tanja, maximal 2000 km davon gefahren bin – also ca. 4 %. In bisherigen Urlauben eigentlich nicht anders, denn Boris hat mehr Spaß am Fahren als ich, und ich liebe eher die Navigation und behalte gerne „den Überblick“. Manche würden sagen: Die klassische Rollenaufteilung. So war es dann auch bei unserer Europa-Reise genauso, denn wirklich „warm“ mit dem Fahren eines LKWs wurde ich nie. Doch dann kam jener Tag Anfang Juni ´23, an dem sich Boris einen Bänderriss im Fuß zuzog. Anfangs fuhr er tatsächlich noch einige Tage mit Schmerzen weiter, aber als die Diagnose feststand, war klar: Wir haben nur die Optionen: „Stehen Bleiben und nicht Weiterfahren“, oder: „Wir setzen unsere Route wie geplant fort“. Das war dann der Tag, wo mein Fahranteil von früheren 4 % über Nacht auf 100 % stieg. Alles klar?!
Es gab keine Ausrede, denn einen C-LKW-Führerschein hatte ich extra für Patsha gemacht. Nur war der Fahrschul-LKW komfortabel, mit Automatik, und fuhr sich trotz der vielen Tonnen fast wie ein größerer PKW. Aber Patsha? Gleich am ersten Tag war unser Übernachtungsplatz über eine Schotterpiste mit Schlaglöchern zu erreichen, und auch noch schräg. Das war die erste Übungslektion, nicht zu schnell zu fahren, den Koffer nicht aufschaukeln zu lassen, und auch auf die (niedrigen) Auffahrrampen zu fahren. Im Übrigen „weigere“ ich mich bis heute, auf eine 3-er-Sektion unserer Auffahrrampen zu fahren, nachdem ich es mal geschafft hatte, über diese hinweg zu rumpeln, und im Rückwärtsgang dann wieder auf diese hoch. Boris ist dabei tausend Tode gestorben. 😉 Am zweiten Tag kam dann schon die nächste Lektion, denn der Übernachtungsplatz war über eine sandig-lehmige Passage zu erreichen. Seitdem ist mein Motto: Mut der Verzweiflung! Bislang bin ich wegen diesem Motto nie stecken geblieben! 😉 Und am Tag 3 dann gleich eine neue Herausforderung: Einen PKW aus dem Graben ziehen. (LINK). Da hatte es auf unserer Europa-Tour über ein Jahr gebraucht, bis wir an einem griechischen Strand ein WoMo herausziehen mußten, und kaum übernehme ich das Steuer, dauert es nur ganze 3 Tage! Während ich damals das Fahren und die „Außenarbeit“ übernommen habe, hat Boris von innen die Seilwinde bedient und das Ganze aus seinem „Fahrerhaus-Ausguck“ koordiniert. Gute Teamarbeit! Aber daß die Situation stolze 2.5 Stunden dauern mußte, war echt hart.
Ein Glück ist, daß in Neufundland und ansonsten in Kanada die Straßen recht breit und gut im Vergleich zu Europa, z.B. zu Frankreich oder Griechenland, sind. So ging das Fahren – selbst in Städten oder auf dem Labrador Highway – recht gut, ansonsten wären wir vermutlich doch länger an einem Ort geblieben, damit sich mein Puls wieder beruhigt. Aber die Fortsetzung des Trans Labrador Highways – die Route #389 im Bundesstaat Quebec – war schon eine echte Herausforderung: Erd-Schotter-Piste, bei Regen rutschig, und mit Schlaglöchern garniert! Wie war ich froh, als wir Baie Comeau erreicht hatten.
Boris hat mir als „Profi-Coach“ viele Tipps und Hinweise gegeben, und es wurde ein regelrechter Crash-Kurs im LKW Fahren. Mittlerweile, nach über 2 Monaten alleine Fahren, und knapp 9000 km, hat sich natürlich eine gewisse Routine eingestellt und ich merke die Größe von Patsha (fast) gar nicht mehr. Jedoch achte ich heute noch auf Dinge wie: Auf Supermarktparkplätzen so einparken, daß man vorwärts wieder rauskommt, denn insbesondere am Anfang fehlte Boris mir als Einweiser. Mit Rückwärtskamera alleine kommt man nicht unbedingt weiter. Auch muß man nicht nur auf die Straße, sondern auch auf die Kabel in der Höhe achten, so daß man gefühlt beim Fahren in 3 Dimensionen schaut. Und dies strengt an. Aufgrund der langen Distanzen in Kanada war eine Tagesetappe von mir (= uns) nie unter 200 km, eher so um 250 km, oft auch mehr. Ein Unterschied zu Europa, wo wir meistens maximal 150 km am Tag gefahren sind.
Das Fahren eines LKWs ist stellenweise schon anders als beim PKW, denn möglichst sollte man auf die normale Fußbremse verzichten, und eher mit der Motorbremse (kleiner Knopf am Boden vor dem Fahrersitz) arbeiten. Auch hat Patsha keinen Leerlaufregler, so daß man beim Abstellen abends die Leerlaufdrehzahl schon mal für den nächsten, morgentlichen Start anhebt, und danach wieder manuell herunter regelt. Rangieren mit Untersetzung geht auch besser als ohne, und mittlerweile habe ich mehr Offroad-Passagen (in Kanada) gefahren als Boris. Yeah, bin schon ein richtiger Offroad-Profi! 😊
Aber mit Patshas Getriebe, insbesondere dem 3.ten und 4.ten Gang, komme ich bis heute nicht klar! Warum sind diese nicht da, wo sie sein sollten, und warum lassen diese sich nicht g’schmeidig einlegen wie die anderen. Boris kriegt jedes Mal einen Herzinfarkt, wenn jene Gänge beim Einlegen knirschen, und dabei versuche ich doch schon, so sanft wie möglich… Während Boris sich mittlerweile auch das Zwischengas-Geben angewöhnt hatte, um solche Gangwechsel reibungsloser zu machen, schaffe ich es eher, den Rückwärtsgang anstatt dem Vorwärtsgang einzulegen, zur „Freude“ des Fahrzeuges hinter mir, wenn ich bei Grün an der Ampel wieder anfahren möchte. Und bei Steigungen den richtigen Gang zu wählen, und die Motorlautstärke dabei auszuhalten, d.h. man jetzt noch nicht hochschalten sollte, ist schon schwer. Mitten auf der 20 %-igen Steigung in der Telegraph Creek Road habe ich es geschafft, den Motor abzuwürgen. Glücklicherweise standen wir an dieser engen Passage trotzdem sicher, aber der Blutdruck ist schon gestiegen – bei uns beiden. Anfahren hat dann natürlich auch nicht geklappt, und Boris hat übernommen. Mittlerweile teilen wir uns das Fahren – nach kurzer Fahr-Reha bei Boris – auf, denn es hat schon etwas Positives, wenn beide die Routine im Fahren besitzen – zumindest auf so breiten und guten Straßen und Pisten, wie Kanada diese zu bieten hat.
Wer sich nun fragt, wie es Boris denn so ergangen ist, hier die Antwort: Nach anfänglichem Bluthochdruck, wenn ich das Steuer übernommen hatte, ist er inzwischen tiefenentspannt – zumindest, solange ich den richtigen Gang SANFT reinbekomme. Er hatte die Navigation übernommen und ich war begeistert, welche tollen Stellplätze er ausfindig gemacht hatte. Auch wenn dies bedeutet, mich erstmal über wildeste Ackerlandschaften in Saskatchewan zu jagen. 😊 Aber insbesondere mit seinem „heißgeliebten“ TireMoni hat er Frieden geschlossen und akzeptiert, wenn die Reifendrücke auch mal um 0,1 bar unterschiedlich sind. So hatte auch der Wechsel der Perspektiven seine gute Seite, trotz allem gesundheitlich Negativem.
Und wenn der Titel anfänglich „Von 4 auf 100“ heißt, so sollte er jetzt eher lauten: 50:50!